Die Automaten-Gutachten des Prof. Dr. Richard Kockel von 1910

Einleitung

Mit der raschen Zunahme der auf dem Markt befindlichen Spielautomaten wuchs ab ca. 1907 auch das Bestreben der Polizei, Automaten mit Glücksspiel-Charakter zu unterbinden. Dabei standen die regionalen Polizeibehörden vor der Aufgabe, die Automaten zu überprüfen und entweder zu gestatten oder zu verbieten. Der Polizei mangelte es aber diesbezüglich an Experten und die Beurteilungen der Automaten waren recht willkürlich.

Viele Automaten waren in den einen Städten erlaubt, in anderen aber als Glücksspiel eingestuft und verboten. Das schaffte nicht nur ein großes Chaos, sondern auch eine sehr starke Verunsicherung bei den Automatenaufstellern und Produzenten.

Der Leipziger Staatsanwalt Dr. Örtel, welcher mit der Bearbeitung der Spielautomatensachen betraut war, beauftrage daraufhin den Leiter des Instituts für gerichtliche Medizin an der Universität Leipzig, Prof. Dr. Richard Kockel, mittels experimenteller Versuche die Frage „Glücksspiel oder Geschicklichkeitsspiel?“ bei Spielautomaten zu klären(1).

Professor Kockel war nicht irgendjemand, sondern der Gründer des Leipziger Instituts für gerichtliche Medizin (siehe auch -> Wikipedia).

Die Untersuchungsmethoden

Zunächst war die Frage zu klären, wie genau man bei Spielautomaten feststellen kann, ob es sich um Glücksspiel oder ein Geschicklichkeits-Automaten handelte. Im Kern galt es zu untersuchen, ob man mit etwas Übung bei dem jeweiligen Automaten deutlich höhere Gewinnchancen erzielen kann, als wenn man ungeübt spielt. Demzufolge musste Kockel Gerätschaften entwickeln, welche mit immer exakt dem gleichen Druck und Winkel auf die jeweiligen Schlageinrichtungen bzw. Schleuderhebel wirken können. So konnte man zumindest im Ansatz ermitteln, ob man mit Geschick höhere Gewinnchancen hat, oder die Zufallskomponente überwiegt.

Schlagapparat an einem Minerva-Spielautomaten 1910
Schlagapparat an einem Minerva-Spielautomaten 1910

Schlagapparat

Die kleine Apparatur wurde mittels zweier Platten und Schraubzwingen an die Gehäuseseite des zu untersuchenden Automaten geklemmt. Sie besteht außerdem aus einem kleinen Hammer, welcher mit Gummi überzogen ist. Dieser Hammer ist an einer Drehachse befestigt und kann mittels einer Feder und einer Mikrometerschraube samt Skala sehr genau gespannt werden.

Über einen Pistolen-ähnlichen Abzug wird der Hammer ausgelöst, welcher dann auf die Fingerschlageinheit des Automaten schnellt. Damit ließ sich sehr genau die Stoßkraft einstellen, um auf eine bestimmte Gewinntasche zu zielen(2).

Stoßapparat an einem Krösus-Automaten 1910
Stoßapparat an einem Krösus-Automaten 1910

Stoßapparat

Im Gegensatz zum Schlagapparat ist die ausgeführte Bewegung beim Stoßapparat linear. Er wird ebenfalls über zwei seitliche Platten und Klemmschrauben am Gehäuse des Automaten befestigt. Der Aufbau ist recht simpel: In einem Hohlzylinder befindet sich eine Spiralfeder, die durch das Zurückziehen eines Kolbens zusammengedrückt wird. Dadurch entsteht eine Spannung, welche mit einem Druck auf den Abzug entladen wird.

Der mit Kautschuk gepolsterte Kopf des Schlaggerätes schnellt auf die jeweilige Fingerschlageinrichtung des Automaten. Die Spannung lässt sich hier ebenfalls über eine Mikrometerschraube sehr fein einstellen(2).

Schleuderapparat an einem Helios-Spielautomaten 1910
Schleuderapparat an einem Helios-Spielautomaten 1910

Schleuderapparat

Um die Prüfung der Treffsicherheit sogenannter Münzschleuderautomaten wie z.B. des „Helios“, „Hopp-Hopp“ oder „Geldbriefträger“ durchzuführen, musste eine andere Lösung vorgenommen werden. Der Schleuderapparat („mechanischer Schnapperauslöser“) wird, wie auch die anderen beiden Prüfinstrumente, mit Hilfe von Schraubklemmen an der Seite des Gehäuses fixiert.

Der Schleuderhebel des Automaten wird durch eine federnde Klinke niedergedrückt und über eine kleine Nase festgehalten. Die Spannkraft lässt sich ebenfalls über eine Justierschraube sehr fein einstellen. Betätigt der Prüfer nun den Abzug, wird die Klinke freigegeben und lässt die Schlageinrichtung des Automaten los.

Dadurch wird auch hierbei sichergestellt, dass die Spannkraft der Schleudereinrichtung immer exakt gleich stark ist(2).

Die Prüfung der Testapparate

Die Urteile des Prof. Kockel hatten natürlich großen Einfluss auf die Automatenfabriken, deshalb mussten die Testmethoden möglichst sicher und unanfechtbar sein. Aus diesem Grund hat das Team um Kockel die Testapparate selbst geprüft. Es galt den Vorwurf zu entkräften, dass ein geschickter Spieler wesentlich genauer seine Kraft dosieren kann, als die Testgeräte.

Dazu wurde z.B. der Stoßapparat, wie auf dem rechten Bild zu sehen, an ein Pendel montiert. Beim Auslösen des Stoßapparates setzte sich das Pendel in Bewegung und blieb an einem bestimmten Punkt, je nach Stärke des Stoßes, auf der Skala stehen. Dieser Punkt (Winkelmarkierung) sollte in 50 Versuchen möglichst exakt getroffen werden.

Zunächst wurde die Versuchsreihe mit dem Apparat durchgeführt. Anschließend sollten „geschickte“ Versuchspersonen manuell das Pendel anstoßen (über Fingerschläge). Die Abweichungen durch den Apparat betrugen höchstens 0,4°, die der Versuchspersonen bis zu 4°(2).

Damit wollte Kockel zeigen, dass seine Testapparate zur Überprüfung der Automaten geeignet sind.

Pendeltest für Prüfgeräte 1910
Pendeltest für Prüfgeräte 1910

Die Tests

Für alle Automaten, die im Institut von Prof. Kockel begutachtet werden sollten, wurde zunächst das entsprechende Testverfahren bestimmt. Anschließend wurden umfangreiche Testreihen durchgeführt und die Ergebnisse notiert. So wurde bei Fingerschlagautomaten z.B. versucht 50 Mal in eine bestimmt Gewinntasche zu treffen. Durch die Testapparate war die Kraft auf die Schlageinheit immer gleich, trotzdem variierten die Ergebnisse bei vielen Automaten recht stark.

Auf dem Bild rechts ist das Ergebnis einer Testreihe für den Automaten „Minerva“ zu sehen. Der Schlagapparat war auf Gewinntasche 2 eingestellt. Trotz immer gleicher Krafteinwirkung auf die Münze wurde die Tasche 2 nur selten getroffen.  Das X markiert die verlorenen Spiele, der weiße Kreis die Abpraller und der schwarze Kreis die Volltreffer. Nur ca. 12% der Spiele wurden trotz eigentlich gleicher Bedingungen in die anvisierte Gewinntasche 2 getroffen (2). Nach weiteren Testreihen auf die anderen Taschen stand dann das Urteil auch schnell fest: Dieser Automat ist den Glücksspielen zuzuordnen.

Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Testreihen wurden in seitenlangen Gutachten für jeden Automaten zusammengefasst. In den alten Polizeiakten der Stadt Leipzig finden sich Abschriften einiger Gutachten Kockels und sehr oft wird sich in den Unterlagen auf seine Bewertungen bezogen.

Ein Großteil der frühen Automaten wurde durch die Überprüfungen Kockels in den Jahren 1909-1910 verboten. Dabei spielte auch die oft minderwertige Verarbeitung eine zusätzliche Rolle bei der Bewertung, da somit ein präzises Zielen/Spielen von vornherein gar nicht möglich war.

Wesentlichen Einfluss auf das Spielergebnis hatte auch die Beschaffenheit der Spielmünze. Gerade die 5- und 10-Pfennigstücke der Kaiserzeit nutzten sich schnell ab und wurden dadurch dünner und unregelmäßiger. Das allein reichte schon aus, um völlig andere Ergebnisse zu erzielen. Die Testreihen von Kockel wurden deshalb nur mit gut erhaltenen Münzen durchgeführt.

Testreihe Automat „Minerva" 1910
Testreihe Automat „Minerva" 1910

Die Reaktionen der Automatenfabrikanten

Prof. Kockel untersuchte bis in die späten 20er Jahre dutzende Spielautomaten im Auftrag der Polizei und Staatsanwaltschaft. Seine Urteile waren gefürchtet, weil sie aufgrund ihrer tiefgehenden Begutachtung von vielen Gerichten und Polizeibehörden als Entscheidungsgrundlage herangezogen worden sind. Dabei wurde er von der Automaten-Industrie als Person oft kritisiert und angefeindet und als Experte für Automaten abgelehnt. So schrieb am 20. Dezember 1926 der Geschäftsführer der „Balance Automaten GmbH“ Leipzig an den Innenminister(3):

„... Wir haben dem L.K.A. vor vielen Wochen den Wunsch geäussert, einen Sachverständigen auf unsere Kosten, den das L.K.A. bestellen kann, zu hören, da wir Herrn Prof. Dr. Kockel niemals als Sachverständigen anerkennen können. Herr Prof. Dr. Kockel ist Mediziner und kann nach unseren Begriffen für eine Feinmechanik nicht das geringste Verständnis haben. ..."

 Hintergrund war ein Verbot der „Original Balance-Automaten“ durch die sächsische Polizei. Diese berief sich in ihrer Begründung des Verbotes u.a. auch auf eine Empfehlung von Prof. Kockel, welcher diese Automaten ebenfalls untersuchte.

„Original Balance-Automat" der Firma Balance-Automaten GmbH Leipzig 1927
„Original Balance-Automat" der Firma Balance-Automaten GmbH Leipzig 1927

Fazit

Stempel des Leipziger Instituts für gerichtliche Medizin, Automat von 1927
Stempel des Leipziger Instituts für gerichtliche Medizin auf einem Automaten-Foto von 1927

Die Gutachten und Tests des Professor Kockel waren für damalige Verhältnisse mit recht viel Aufwand verbunden. Nach den oft willkürlichen Urteilen der Landgerichte und Polizei-Behörden vor 1909 hatte man nun für viele Automaten zumindest eine sachliche und begründete Einschätzung. Viele der alten Automaten wurden damals als Glücksspiel klassifiziert und verschwanden aus den Kneipen und Spielhallen. Dies dürfte auch ein Grund sein, warum über die alten Automaten vor dem Ersten Weltkrieg so wenig bekannt ist und weshalb nur noch sehr wenige Exemplare erhalten sind.

Im Leipziger Institut für gerichtliche Medizin müssen innerhalb der Jahre 1909-1927 sehr viele Automaten untersucht und fotografiert worden sein. Viele Fotos von Automaten in den Leipziger Polizeiakten tragen den Stempel des Instituts auf der Rückseite. Dennoch ist im Universitätsarchiv von Leipzig und auch im Archiv der Rechtsmedizin über dieses Kapitel der Institutsgeschichte rein gar nichts zu finden.

Gerade diese Fotos und Unterlagen könnten aber bei der weiteren Erforschung der Thematik sehr wichtig sein. Eventuell werden diese Akten in einem anderen Archiv eingelagert oder sind zwischenzeitlich vernichtet worden.

Wenn Sie diesbezüglich helfen können, oder einen Tipp für den Verbleib solcher Akten haben, dann nutzen Sie bitte das Kontaktformular. Vielen Dank.

Nachtrag: Klassifizierung der Spielautomaten durch Kockel

Kockel teilte die Automaten in sechs verschiedene Kategorien ein(2):

  1. Fingerschlag-Automaten, bei welchen das eingeworfene Geldstück in eine Führungs- bzw. Schussrinne gelangt. Beispiele (vor 1910): „Komet“, „Salamander“, „Minerva“, „Trapant“, „Zielbewußt“ usw.

  2. Münzschleuder-Automaten, bei welchen das Geldstück mit einem sog. Schnapper geschleudert wird. Hierzu zählen z.B. die Automaten „Elite“ (1910-Version) und die Etagenspielgeräte „Hopp-Hopp“, „Geldbriefträger“, „Räuberhauptmann von Köpenick“, „Jockey“ usw.

  3. Automaten, bei welchen die Wurfbahn durch eine Begrenzung stark vorgegeben ist. Beispiele: „Rotador“, „Helios“, „Germania“, „§11″, „Pfeil“, „Hohenzollernschleife“, „Immer an der Wand lang II“, „Paß uf“ usw.

  4. Automaten, bei welchen der Spieler das Geldstück durch Fingerstoß auf einer schiefen Ebene in eine Öffnung treffen muss. Rollt das Geldstück zu weit, ist es verloren. Beispiel: „Reform“

  5. Schießautomaten, bei welchen Kugeln oder Münzen direkt in eine Gewinnöffnung geschleudert werden müssen (z.B. „Triumph“, „Saxonia“), aber auch Automaten, wo die Visiereinrichtung nicht aufs Ziel selbst, sondern auf weit davon entfernte Orientierungslinien eingestellt werden muss. Beispiel: „Looping the Loop“.

  6. Alle Spielautomaten, bei denen die Münze oder Kugel nach dem Einschleudern in den Automaten durch ein Hindernisfeld/Stiftfeld hindurch rollen muss und mittels eines durch den Spieler zu steuernden Fangbechers aufgefangen werden soll. Beispiele: „Zeppelin“, „Goldregen“, „Sumatra“

Alle von Kockel untersuchten Automaten lassen sich zumindest vom Grundprinzip einer der sechs Kategorien zuordnen.

1  Örtel: Die strafrechtliche Behandlung der Geldspielautomaten, Deutsche Juristen-Zeitung, 20/1909 S. 1241-1243

2  Kockel, Prof. Dr. Richard: Die Grundzüge der sachverständigen Prüfung von Geldspielautomaten, 1910

3  Sächsisches Staatsarchiv, Hauptstaatsarchiv Leipzig, 20031 Polizeipräsidium Leipzig, Nr. PP-V 4018

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